Die trunkene Alte
von Joline Diekneite
Die mit gekreuzten Beinen am Boden sitzende alte Frau hält eine mit einem Efeukranz geschmückte Lagynos (Weinflasche) in ihren Händen. Der zurückgeworfene Kopf gibt den Blick auf den faltigen Hals frei. Eingefallene, herabhängende Wangen und tiefe Falten kennzeichnen sie als alte Frau, während der geöffnete Mund mit einer unvollständigen Zahnreihe Singen, Lallen oder ein Lachen andeutet. In Kombination mit dem Trinkgefäß verweist der Ausdruck auf ihren betrunkenen Zustand.
Das Motiv des von der Schulter gerutschten Gewandes gilt in der griechischen Plastik als ein erotisches Motiv, welches hier entfremdet wird. Statt einen schönen und makellosen Körper zu entblößen, wird in diesem Fall die skelettartige und abgemagerte Schulterpartie der alten Frau enthüllt.
Der alte, ausgemergelte Körper steht in einem starken Gegensatz zu der hochwertigen Kleidung, den geordneten Haaren und dem Schmuck. Das faltenreiche Gewand umspielt den Körper der Alten und erinnert in seiner Darstellung an das späte 5. Jh. v. Chr. Die Skulptur vereint demnach die Gegensätze von idealisierter klassischer Inszenierung und einem superrealistisch dargestellten Altersverfall. Diese wirklichkeitsnahe Darstellung von einem seelischen und körperlichen Zustand ist typisch für die Kunst des frühen Hellenismus.
Seit dem 5. Jh. v. Chr. waren alte, betrunkene Frauen in griechischen Theatern eine beliebte Rolle, über die sich Menschen lustig machen konnten. Sie galten als eine Art Ventil für die unter strengen Vorgaben lebende griechische Bevölkerung. Besonders Personen vom Rand der Gesellschaft, wie zum Beispiel Ammen oder gealterte Hetären (gebildete, teilweise politisch einflussreiche Geliebte hochstehender Männer), waren gut für die Komödie geeignet. Zahlreiche Terrakottafigurinen von trunkenen Alten untermauern dieses beliebte Genre. Unsere Trunkene Alte ist die erste Großplastik, die auf diese Thematik Bezug nimmt. In einer Tonkanne aus Skyros wird diese Skulptur zitiert, die Beschriftung dieser lautet: „Beglückt sitzt die zur Flasche gewordene Alte da.“
Die Lagynos sowie die Trunkenheit der Alten verweisen auf Dionysos. Vermutlich handelt es sich bei der Statue um ein Weihgeschenk und sie wurde in einem dem Gott des Weines gewidmetem Heiligtum aufgestellt. Das Trinkgefäß nimmt Bezug auf das Fest der Lagynophorien in Alexandria, welches in engem Bezug zu einem lokalen Dionysoskult stand. Möglicherweise entstand die Skulptur in diesem Kontext.
Altersdarstellungen im Hellenismus
Von Arbeit gebeutelte Körper und traurige Schicksale vom Rand der Gesellschaft waren beliebte Motive der Großplastik im Hellenismus.
Ausgemergelte Körper von Fischern oder Bauern stellten ein Gegenbild zu den städtischen Eliten dar und werden allgemein als Genrefiguren bezeichnet.
Als ein Beispiel kann die Skulptur des „Alten Fischers“ gelten. Der alte, bis auf ein Tuch um seine Hüften unbekleidete Mann ist von der harten körperlichen Arbeit gebeugt. Sichtbare Alterszüge kennzeichnen das Gesicht und den Oberkörper. In seiner Linken hielt er vermutlich einen Korb mit Fischen, in der Rechten möglicherweise eine Gabe, die er an ein Heiligtum zu stiften gedachte.
Mit der dargebrachten Gabe wurde den Göttern für die Ernte gedankt, sie diente aber auch zur Versicherung des anhaltenden göttlichen Beistandes.
Bei der Skulptur selbst handelt es sich um ein Weihgeschenk. An das Heiligtum gestiftet wurde die Statue des Alten Fischers wahrscheinlich von einem Mitglied der städtischen Gesellschaft. Er stellte durch das kostbare Weihgeschenk und durch den Verzicht auf eine konkrete Nennung seines Namens seine Frömmigkeit unter Beweis.
Der Alte Fischer wird hier – genauso wie die Trunkene Alte – zu einem Vertreter einer verklärten Gegenwelt zur städtischen Oberschicht.
Die Darstellung der Trunkenen Alten ist vielschichtig. Ihre reiche Kleidung verweist eventuell auf ihr früheres Leben, möglicherweise findet sie Trost im Wein. Auch ihr Blick ist mehrdeutig: das Lachen oder Lallen steht in Kontrast zu den ausdrucksvollen, möglicherweise sogar traurigen Augen.
Das Motiv der Trunkenen Alten wurde auch später zitiert: Der Kopf einer alten Frau aus Dresden zeichnet sich durch eine stark verzerrte Mimik aus. Der geöffnete Mund verweist auf ihren berauschten Zustand, aufgrund des Kranzes aus Weinreben in ihrem Haar kann sie der Welt des Dionysos zugeordnet werden.
Die Darstellungsweise des Kopfes aus Dresden ist, trotz der zahlreichen Ähnlichkeiten zur Trunkenen Alten, wesentlich eindimensionaler. Sie wirkt wie eine Karikatur – der betrunkene Zustand steht hier allein im Vordergrund. Im Gegensatz dazu wird bei der Trunkenen Alten durch ihren vieldeutigen Ausdruck, ihren alten Körper und ihre reiche Kleidung eine besondere Vielschichtigkeit erzeugt.