Skulptur des Monats Juli 2023

Der Doryphoros des Polyklet

von Chenxia Zhao

Statue des Doryphoros aus Pompeji, Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin Inv. 82/21

Die Statue zeigt einen jüngeren und unbekleideten Mann im klassischen Kontrapost: Sein rechtes Bein – das Standbein – trägt das gesamte Körpergewicht. Im Gegensatz dazu ist sein linkes Bein entlastet und entspannt, nur die Zehen des zurückgestellten Fußes berühren den Boden. Die Hüftlinie verläuft aufgrund des Ungleichgewichts in der Gewichtsverteilung schräg. Dadurch bedingt schwingt die Wirbelsäule in einer S-Kurve nach oben, um den Körperschwerpunkt auszugleichen. Die Schulterlinie ist ebenfalls leicht schräg, im Gegensatz zur Hüftlinie. Der Kopf dreht sich natürlich in die Richtung des belasteten Beins. Der rechte Arm hängt entspannt an der Seite des Körpers, während der linke Arm aktiv angewinkelt ist und früher vermutlich eine Lanze oder einen Speer hielt.

Der (Gips-) Abguss zeigt eine Marmorstatue aus der römischen Kaiserzeit. Bei dieser Marmorstatue handelt es sich allerdings wiederum um eine römische Kopie. Sie geht auf ein griechisches Original aus der Zeit um 440 v. Chr. zurück und damit auf die Epoche der griechischen Hochklassik.

Da es mindestens 25 weitere maßgleiche römische Kopien (auch Repliken genannt) gibt, muss es sich bei dem Original um eine sehr berühmte griechische Statue gehandelt haben. Aus schriftlichen antiken Quellen wissen wir, dass der Künstler Polyklet aus Argos eine Statue geschaffen hat, die als sog. Speerträger oder ‚Doryphoros‘, große Berühmtheit erlangte. Zugleich formulierte Polyklet an dieser Statue einen ‚Kanon‘ und legte fest, wie der Körperaufbau einer stehenden Statue idealerweise auszusehen habe.

Der Archäologe Karl Friederichs identifizierte im Jahr 1863 die bekannten römischen Repliken als Kopien des von Polyklet geschaffenen ‚Doryphoros‘. Wen dieses Original ursprünglich darstellte, bleibt unklar. Viele sehen in ihr ein Abbild des berühmten griechischen Helden Achill. Doch dies bleibt ein Geheimnis.


Die ‚perfekte Statue‘ – ein Ideal

Der lateinische Begriff statua bedeutet ‚Standbild‘. Die frühesten stehenden Menschenbilder wurden im antiken Ägypten und in Vorderasien angefertigt. Mitte des 7 Jh. v. Chr. übernahmen die Griechen Formen aus Ägypten und entwickelten daraus ein eigenes Darstellungsschema für stehende unbekleidete junge Männer. Sie wurden als Kouroi bezeichnet. Charakteristisch ist die strenge und frontale Haltung sowie der symmetrische Körperaufbau.

Im frühen 5. Jh. v. Chr. lösten sich die griechischen Bildhauer erstmals von diesem Schema. Sie suchten nach einem neuen und – ‚sich selbst bewussten‘ – natürlichen Stehen, bei dem das Körpergewicht auf das Standbein verlagert wurde. Auf den symmetrischen Aufbau der Statue verzichtet man von nun an. So entstand im Jahrzehnt 490–80 v. Chr. ein neuartige ‚Standbild‘. Dies gilt als der Wendepunkt vom archaischen zum klassischen Stil.

Kritios-Knabe, Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin Inv. 81/21

Der sog. Kritios-Knabe ist eines der frühesten Beispiele dieses neuen Stils. Sein Körper zeigt erstmals den Ausgleich der Gewichtsverhältnisses, benannt nach dem lateinischen Verbum pondere (Ponderation). Der Kritios-Knabe setzt sein rechtes Bein entspannt nach vorne, während sein linkes Bein die Last des Körpers trägt. Wir unterscheiden hier zwischen ‚Spielbein‘ und ‚Standbein‘. Durch die Gewichtsverlagerung verschiebt sich die Hüfte: Über dem Standbein ist sie etwas höher. Ein leichter S-Schwung im Oberkörper gleicht diese Schrägstellung wiederum aus. Darüber hinaus drehen sich Becken und Brust etwas aus der Körperachse heraus, der Kopf neigt sich zur ‚Spielbeinseite‘. Hier entsteht ein neues Körperbild, in dem die einzelnen Teile in ihren Bewegungen aufeinander reagieren und so ein Ganzes bilden.

Was beim ‚Kritiosknaben‘ nur angedeutet ist, führt die Statue des Doryphoros zu einem Höhepunkt. Bei ihm wird die Ponderation auf eine durchdachte Weise auf die Spitze getrieben.

Die durch die Differenzierung von Stand- und Spielbein bedingte Verschiebung von Hüfte und Schultern, der Wechsel von Aktivität und Passivität (Stand-/Spielbein; Armhaltungen) wird als ‚Klassischer Kontrapost‘ bezeichnet. Er gibt das Ausbalancieren des Körpers wieder. Dies war eines der wichtigsten künstlerischen Darstellungsmittel, mit denen die Griechen das klassische Bild des menschlichen Zusammenspiels von Freiheit und Gebundenheit der Bewegung schufen. Es war beispielhaft für viele nachfolgende Kunstepochen, vor allem die Renaissance und den Klassizismus.

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